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schönes, erfreuliches
und bemerkenswertes


Der meistgelesene Kulturblog der Hauptstadt – mit Kurzkritiken zu Theater, Tanz, Performance, Oper, Kunst, Kino und Literatur: bemerkenswert, sehenswert, hörenswert.

The ultimate culture blog — reviewing theatre, dance, performance, opera, art, film and literature: most widely read and much valued. Find out what‘s on.

Judith/Herzog Blaubarts Burg

© Wilfried Hösl
Das Dunkle. Sie bringt es ans Licht: Judith, die Ermittlerin, und Katie Mitchell, die Regisseurin. Das dunkle Geheimnis des Herzog Blaubart, der Mann, durch dessen Unterbewusstsein das Psychodrama führt. Ein Mann, der durch stetiges Bitten Judiths Tür um Türe öffnet. Herausgekommen ist ein fabelhafter Doppelabend mit Musik von Béla Bartók. Bei dem geht es weit ruhiger zu auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper, als man das von Katie Mitchell kennt: Die Film-Ouvertüre entsteht nicht live, sie wurde vorproduziert. Auch der zweite Teil ohne Kameras; eine naturalistische Märchenerzählung, albtraumhaft mit melodramatischem Ende. Mitchell schafft jedoch etwas von ihrer typischen Erzählweise formell umzusetzen: Die Szenen ziehen praktisch am Publikum vorbei. Sieben Räume mit den sieben Türen bewegen sich von rechts nach links als würde man einen Filmstreifen gegen das Licht halten. Damit bringt die Regisseurin den Symbolismus der Blaubart Sage kongenial mit dem Impressionistischen von Béla Bartóks Musik zusammen: Meine Erinnerungen sehen mich. Der Abend ist ein Sieg der Frauen, auch wenn es zu Beginn noch nicht so aussieht. Am Pult leuchtet Oksana Lyniv, Nina Stemme als Judith, die Blaubart führt ohne dass er das merkt. Damit gelingt Judith die Opfer-Täter-Umkehr, die Mitchell inszeniert. Der Abend erzählt aber auch von Paardynamik, Liebe als Ware und der Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen. Die Bayerische Staatsoper hat mit Nina Stemme (Judith) und John Lundgren (Blaubart) zwei Weltstars für Bartóks einzige Oper gewonnen. Die beiden singen oft zusammen und bringen, neben den stimmlichen Dimensionen, besonders eine darstellerische Tiefe in die Handlung, die sie zu einer eine Idealbesetzung macht. Die Münchner goutierten das mit langem Applaus. Bayerische Staatsoper München So 9. Februar 2020 um 18 h Do 13 Februar 2020 um 19 h So 16. Februar 2020 um 18 h Sa 27. Juni 2020 um 18 h Mo 29. Juni 2020 um 19 h

Kluge Gefühle

© Dorothea Tuch
It’s showtime: Das Stück beginnt mit einer der »36 Fragen« aus Arthur Arons soziologischem Experiment von 1997. Es hätte auch gut Frage Nr. 24 sein können: »Was denkst du über die Beziehung zu deiner Mutter?» Um eine Mutter-Tochter Beziehung geht es in »Kluge Gefühle«, um Verletzlichkeit, Einsamkeit, Gewalt, Tod und Tabu. Es ist die Geschichte der Autorin Maryam Zaree. Im Stück heißt sie Tara, gespielt von Eva Bay. Die eigentlich zentrale Figur aber ist die Mutter Shahla: Anke Engelke lässt sie bei ihrer Aussage vor dem Tribunal in Den Haag ganz pur und gerade vortragen – ohne Pathos, dafür mit viel Menschlichkeit. Es gelingt Anke Engelke die wenigen Sätze über die drastischen Ereignisse in Evin, dem meinst gefürchtetsten Foltergefängnis des Iran, fühlbar zu machen. Sie stellt sich furchtlos zur Verfügung und lässt das wirken, was sie sagt. Das schafft einen Raum für geteilte Erfahrung. »Kluge Gefühle« ist Maryam Zaree erstes Theaterstück, Nils Bormanns erste Regiearbeit und Anke Engelkes erste dramatische Theaterrolle. Anders als die Uraufführung beim Heidelberger Stückemarkt im April diesen Jahres verortet das Regie/Dramaturgen-Team Bormann/Zaree die Inszenierung zwischen einer Sitcom a la »Linie 1« und einem nüchternen Doku-Drama. Trotz manch stereotyper Phrasen und inszenatorischer Mutlücken ein klug gebauter Erstling und eine Anke Engelke, die man gesehen haben muss. HAU 3, Hebbel am Ufer, Berlin Mi 13. Juni 2018 um 20 h Do 14. Juni 2018 um 20 h

Michael Kohlhaas

© Armin Smailovic
Es beginnt mit einem Zaubertrick: Kohlhaas wird geköpft. Vorhang. Ein Satz von Kleist mit Märchenerzählerstimme aus dem Off. Dann eine lange Slapsticksequenz: drei Spieler in einer Bretterbude (Thomas Niehaus, Jörg Pohl, Paul Schröder). Man hält sie für reaktive Beamte, die aussehen wie Untote und eintreffende Weisungen ausführen, bis sich nach 42 wortlosen Minuten herausstellt, dass sie Unternehmer sind (die Gebrüder K. nämlich) und die Flut der Weisungen sie plötzlich übermannt. Antú Romero Nunes setzt bei seiner Inszenierung alles aufs Spiel. Er scheitert und gewinnt zugleich und es ist ihm Ernst mit beidem. Wie Michael Kohlhaas. Kohlhass will sich Recht verschaffen. Kleist beschreibt den Konflikt zwischen Naturrecht und positivem Recht, das durch Gesetzgebung entsteht. Der Abend ist eine vehemente Aufforderung sich genau damit auseinander zu setzen. Wenn Konzerne praktisch keine Steuern zahlen, ist die öffentliche Erregung groß. Nach geltendem Recht tun sie nichts Ungesetzliches. Es muss das positive Recht also dem ethisches Empfinden (Naturrecht) angepasst werden. Das fordert Kohlhass für sich ein. In einem Feuerwerk aus Ideen und Anspielungen prasseln, lodern, brennen die Kohlhaas’schen Fragen nach Ordnung und Unordnung, Macht und Ohnmacht, Recht und Gerechtigkeit, Verunsicherung und Sicherheit, Verfolgen und Verfolgt, Kampf und Verletzlichkeit, Scheitern, Gelingen und danach ein Ende zu finden. Nunes glückt das Kunststück einer komödiantischen Tragödie, einer tragischen Komödie. Ein kluger Abend mit reichlich Stoff sich zu erregen. Thalia Theater Hamburg Sa 27. Januar 2018 um 19:30 h Di 6. Februar 2018 um 20 h Sa 10. Februar 2018 um 20 h So 11. Februar 2018 um 15 h So 18. Februar 2018 um 19 h Fr 23. Februar 2018 um 20 h Sa 10. März 2018 um 20 h Mi 14. März 2018 um 20 h Do 15. März 2018 um 20 h Mo 23. April 2018 um 20 h Di 15. Mai 2018 um 20 h Fr 25. Mai 2018 um 20 h Do 07. Juni 2018 um 20 h So 17. Juni 2018 um 17 h Sa 23. Juni 2018 um 14 h

Wir sind viele

© Jim Rakete
Eigentlich sind wir darauf trainiert weg zu schauen, wenn jemand anders aussieht oder sich anders bewegt. Die aktuelle Ausstellung »Wir sind viele« lässt uns hinschauen. Jim Rakete hat 50 Menschen mit Behinderungen fotografiert: mit Epilepsie, mit psychischen Leiden, mit Gewalt- und Suchterfahrungen, mit unheilbaren Krankheiten. Menschen, die obdachlos oder schutzbedürftig sind. Er bereiste dafür unterschiedlichste Einrichtungen Bethels: von Berlin bis Bielefeld, von Hannover bis Dortmund, Freistatt, Lobetal und Blütenberg. Und im Katalog kann man die Geschichten hinter den Gesichtern nachlesen. Das macht den Ausstellungsbesuch noch lebendiger. Eine große Ausstellung mit großen Portraits. Und Lebensfreude pur. Dringend empfohlen. Deutscher Bundestag, Berlin Bis Freitag 10. Februar 2017 geöffnet Montag bis Freitag 9 bis 17 Uhr Paul-Löbe-Haus, Eingang West Konrad-Adenauer-Straße 1, 11011 Berlin Besichtigung nur mit Anmeldung möglich. Anmelden kann man sich hier (es geht nicht ohne) Personalausweis beim Besuch bitte mitbringen.

Five Easy Pieces

© Phile Deprez
Der Art Center CAMPO in Ghent bittet Milo Rau ein Kinderstück mit belgischen Kindern zu machen. Nichts ist für ihn naheliegender als ein Stück über Marc Dutroux zu entwickeln. Belgien – KInder – Dutroux. Es heißt »Five Easy Pieces«, wie eine Fingerübung von Igor Strawinsky. Easy ist in diesem Reenactment aber gar nichts. Der Stoff hat es in sich. Der Zuschauer wird konfrontiert mit dem Zuschauen im Theater, mit Voyeurismus und mit Unerhörtem, was man nicht hören will – von Kindern noch viel weniger. Die sieben Kinder zwischen 8 und 13 Jahren spielen und singen alles, ausser Marc Dutroux. Der bleibt eine Leerstelle, den will keiner spielen. Es gibt immer wieder Momente im Stück, an denen fragt man sich, ob es an Kindesmissbrauch grenzt, Kinder mit diesen Texten auf die Bühne zu stellen. Am Ende bekommt man das Gefühl, die Kinder nehmen das spielen als Spiel und nur die Erwachsenen haben ein Thema mit diesen existentiellen Themen. Großer erleichternder Applaus am Ende und viele intensive Bilder mit denen man nach Hause geht. Sophiensäle Berlin Sa 2. Juli 2016 um 19:30 h So 3. Juli 2016 um 19:30 h TOpublic Festival Oslo, Norwegen 7. und 8. Juli 2016 19 h Singapore International Festival of Arts, Victoria Theatre Singapur 18. bis 20. August 2016 um 20 h Münchner Kammerspiele, München 1. bis 3. Oktober 2016 Frascati Theater Amsterdam Fr 10 Februar 2017 um 20:30 h Sa 11 Februar 2017 um 20:30 h Sick Festival, Manchester Do 23 – Sa 25 März 2017

Raus

© Etienne Girardet, pacificografik.de
Ein Bauzaun versperrt den Blick auf die Bühne. Nach und nach bekommt der Zuschauer Einblick in das, was dahinter vor sich geht. Vierzig junge Berliner zwischen 13 und 19 Jahren singen, tanzen und spielen zum Thema »Raus«. Da geht es um Flüchtende, Freiheit, Grenzen, aber auch um Pubertät als Grenzerfahrung, erste Liebe, Mut und was es bedeutet anders zu sein. Mit viel Gespür für zarte Nuancen und große Gesten inszeniert Rachel Hameleers, die künstlerischen Leiterin der Kreuzberger »Academy«, diesen hinreißenden Abend. Sie brennen, diese Kids, und sie reißen mit, mit Ihrer Begeisterung und ihrem Talent. Eine Produktion, die man auf keinen Fall verpassen darf. Alte Feuerwache, Berlin Mi 22. Juni 2016, 19:30 h Do 23. Juni 2016, 19:30 h Fr 24. Juni 2016, 19:30 h Sa 25. Juni 2016, 16 h Restkarten an der Abendkasse Academy Casting Workshop Sa 17. September 2016, 12–16 Uhr oder So 18. September 2016, 12–16 Uhr

Real Magic

© Forced Entertainment
Dieser Abend ist »Forced Entertainment«. Das Performance Kollektiv aus Sheffield macht seinem Namen alle Ehre. »Real Magic« bringt die großen Themen des Lebens auf den Punkt: Veränderung, Wandel, Umbruch. Und die Einschränkungen, die wir uns selbst auferlegen. Eine Metapher für Wegschauen, Grenzenschließen, Brexit. Die Versuchsanordnung von »Real Magic« bewegt sich zwischen Spielshow und Zaubervorführung. Gedanken sollen gelesen werden. Eine winzige Szene aus dem Cabaret, die wir am Ende 36 Mal gesehen haben. Die drei Spieler Claire Marshall, Jerry Killick und Richard Lowdon zelebrieren in der Tradition Becketts die Absurdität des Scheiterns. Eine Niederlage nach der anderen wird vorgeführt. Ein Kandidat wird vorgeführt. Rollenwechsel. Optimismus und Hoffnung bleiben bis zum Schluss. Und so ausweglos und unentrinnbar das Script, so sehr hofft man auf Erlösung. Eine pralle, rasend komische Show, bei der alle Beschreibungen scheitern müssen: Man muss »Real Magic« einfach sehen. Brillant. Hebbel am Ufer, HAU2, Berlin Fr 3. Juni 2016 um 20:30 h Sa 4. Juni 2016 um 20:00 h Show in English

Schiff der Träume

© Matthias Horn
Karin Beier baut einen Drei-Stunden-Abend wie ein Schiff. Er beginnt auf dem intellektuellen Oberdeck. Nah an Fellinis Film »Schiff der Träume«. Die geschlossene Gesellschaft der Orchestermitglieder probt »Human Rights Nr. 4«, das Opus ihres verstorbenen Dirigenten, auf dem Weg zu seiner Seebestattung in er Ägäis. Dann die zweite Hälfte des Abends: Veränderung. In Seenot geratene Refugees werden gerettet und aufgenommen. Aber die »Geretteten« nehmen nicht, sie geben. Sie bringen Heil, Humor und Verjüngungsgene für unsere überalterten mitteleuropäischen Gesellschaften. Das proklamieren sie herrlich ironisch, rasant, farbig und bewegend. Ihr »Schwarzen Humor« überrascht und stellt manches auf den Kopf. Trotzdem meint die Oberdeckgesellschaft: Das Boot sei voll. Die drögen weißen Herrenmenschen kommen mit den aufregenden schwarzen Afrikanern nicht wirklich zusammen. Und der Abend nicht wirklich mit seinen Ansprüchen. Deutsches Theater Hamburg Sa 28. Mai 2016 um 19:30 h So 19. Juni 2016 um 18:00 h

Mitleid. Die Geschichte des Maschinegewehrs

© Daniel Seiffert
Flüchtlinge kommen zu uns und bringen ihre Geschichte mit. Scheinbar hat es diese massive Migrationsbewegung gebraucht, bis Europa aufhorchte und begriff, was in Syrien passiert. Milo Raus Inszenierung thematisiert die Arroganz der Berichterstattung und die Arroganz des Helfens. Ursina Lardis Kunstfigur berichtet als Ich-Erzählerin von ihren »Erfahrungen« als Helferin. Die Texte speisen sich aus Interviews mit NGO-Mitarbeitern, Geistlichen und Kriegsopfern in Afrika und Europa. Nahe kommt einem das nicht. Und vielleicht soll es das auch nicht. Ursina Lardi spielt eine Schauspielerin, die eine Schauspielerin spielt, die einen Text vorträgt. Milo Rau konfrontiert die Erwartung des Zuschauers mitzuleiden oder sich einzufühlen mit kühler Arroganz. Inhaltlich hält der Abend eher denen den Spiegel vor, die vermutlich nicht ins Theater gehen. Für die Anwesenden aber ist die kolonial und globale Kapitalismuskritik in weiten Strecken absehbar und wenig überraschend. Am Ende bleib auch ein Geschmack von »gut gemeint«. Milo Rau hat erheblich Grundsätzlicheres auf die Bühne gebracht – wie etwa mit Hate Radio. Schaubühne, Berlin Do 31.März 2016 bis So 3.April 2016 So 10. und Mo 11. April 2016 Weitere Termine im Mai: 15.,18.,19.,,20., 26., 27., 28., 31. Mai 2016

Borgen

© Arno Declair
»Kann ich politisch erfolgreich sein und ich selbst bleiben?«, fragen chorisch immer wieder die vier Schauspieler. Nicolas Stemann dampft die 30 Stunden der Erfolgsfernsehserie »Borgen«, um die idealistische dänische Premierministerin Birgitte Nyborg, auf knapp vier Stunden ein. Statt Textzettel gibt es passend Teleprompter über den Köpfen der Zuschauer. Stemann hält sich streckenweise wörtlich an die Dialoge der Originalvorlage, doch scheint der Regisseur dem Zuschauer eher den Glauben an Politik und Demokratie nehmen zu wollen und liefert dazu einen kritischen Blick auf die Serie. Die Reduzierung des Umfangs produziert manchmal komische Momente der Überzeichnung, oft aber eine holzschnittartige Verflachung. Einblicke und Einsichten, wie Politik gemacht wird und dass es sich auch um ein Handwerk handelt, wie man zu einer Lösung kommt, bleiben auf der Strecke. Die Entzauberung der Figuren und der Politik an sich scheint gewollt: Kommentierende Sidekicks und Kapitalismuskritik sind zwar lustig, bleiben aber im Vergleich zur aktuellen politische Lage eher harmlos. Die Schauspieler machen allesamt einen phantastischen Job und man sieht ihnen, trotz der Längen, gerne dabei zu, wie sie spielend in die 40 verschiedenen Rollen schlüpfen. Schaubühne, Berlin Mo 15. Februar 2016 Di 16. Februar 2016 Mi 17. Februar 2016 So 6. März 2016 Mo 7. März 2016 Di 8. März 2016 Sa 30. April 2016 So 1. Mai 2016

Testament

© Doro Tuch
Dass man Shakespeares King Lear derart demontieren kann und dabei nah und dicht erzählen kann, das haben She She Pop bewiesen, als sie im Februar 2010 mit Testament herauskamen. Nie ist man näher zum Kern der Sache vorgedrungen, nie hat man die Vater-Tocher-Beziehung besser verstanden. Und wurde dabei besser unterhalten: man lacht und weint und tanzt mit den Spielern auf der Bühne. Durchlebt verstörende Momente, in denen alle Hüllen fallen und nur das übrig bleibt, was vielleicht bleibt, wenn eine Generation geht und eine andere zurück lässt. Jetzt ringen She She Pop und ihre Väter noch einmal um Liebe, Anerkennung und Annahme. Zum letzten Mal ist ihre Lear-Adaption in Berlin und in München zu sehen. Dringend empfohlen. Hebbel am Ufer, HAU 2, Berlin Di 24. November 2015 Do 26. November 2015 Sa 28. November 2015 So 29. November jeweils 20 h Restkarten an der Abendkasse Kammerspiele München Fr 18. Dezember 2015 Sa 19. Dezember 2015

Wintersonnenwende

@ Arno Delair
Ein Mann, eine Frau, nicht mehr ganz jung, noch nicht alt, der Abend vor Weihnachten, sie streiten. Es geht um die angekommene Schwiegermutter, aber eigentlich wird nichts wirklich verhandelt, man weist sich zurecht. Hätte Yasmina Reza und nicht Roland Schimmelpfennig das Stück geschrieben, würde es an der Kömodie am Kurfürstendamm aufgeführt und dann wäre der Bekannte der Mutter sicher kein national tönender Arzt aus Paraguay. Seine unwirklichen Einwürfe überraschen aber wenig und gewendet wird hier auch nichts. Jan Bosse inszeniert eine gestelzte Künstlichkeit, wie man sie zweifellos in vielen Haushalten am 23. Dezember finden wird. Die Lebendigkeit ist dahin. Der »Clash of Cultures« zwischen dem linksintellektuellen Hausherren und dem herein geschneiten faschistischen Musikliebhaber ist so spannend wie der Weihnachtsbaum: unecht, abwaschbar und immergrün. Deutsches Theater, Berlin Sa 24. Oktober 2015 Di 27. Oktober 2015 So 8. November 2015 Do 12. November 2015 Fr 27. November 2015

Gastfreundschaft

»Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.«
Johann Wolfgang von Goethe

Westöstlicher Divan

© Luis Castilla
In der Musik sind alle gleich. Das West-Eastern Divan Orchestra bringt 105 junge arabische und israelische Musiker zusammen und trotz damit den politischen Gräben im Mittleren Osten: ein Statement für ein friedliches Zusammenleben der Völker. Es gibt jetzt auch syrische Flüchtlinge im Orchester. Daniel Barenboim setzt politische Zeichen, sieht aber in seinem Projekt vor allem eine Schule des aufeinander Hörens. Dem spritzigen jungen Orchesterklang hört man das gegenseitige Zuhören an. Nach drei Konzerten bei den Salzburger Festspielen kommt das Orchester nach Berlin, wo 22.000 Zuhörer in der Waldbühne in Berlin erwartet werden. Es gibt Werke von Pierre Boulez, Richard Wagner, Béla Bartók, Piotr Tchaikovsky und Arnold Schönberg. Waldbühnenkonzert 2015, Berlin Sa 15. August 2015 Es gibt noch Karten. Lucerne Festival, Luzern So 16 Aug 2015 Mo 17. August 2015 Royal Albert Hall, London Di 18. August 2015

Das Kongo Tribunal

© Daniel Seiffert
Wir sind alle Spieler in diesem Theatergerichtssaal. Es geht um »Wahrheit und Gerechtigkeit«, so steht es auf den Transparenten, die schon im ersten Teil (Bukavu Hearings) im Kongo gehangen haben. Milo Rau und sein Team vom International Institute of Political Murder haben eine prominente Geschworenen-Jury in Berlin versammelt: Wolfgang Kaleck, Saran Kaba Jones, Harald Welzer, Antoine-Marc Vumilia Muhindo, Colette Braeckmann und Saskia Sassen. Mit den beiden Strafrechtlern, die am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Anwalt gegen kongolesische Milizenführer tätig sind, bekommen die Hearings beeindruckende Strahlkraft und beklemmende Deutlichkeit. Wie dem historischen Vorbild ist den Berlin Hearings ein großes Echo und politische Wirksamkeit zu wünschen. Es gibt einen Liveticker und am Ende das Urteil zum Nachlesen. Sophiensäle Berlin Sa 27. Juni 2015 12–15 h 17–20 h So 28. Juni 2015 14–20 h

Das schweigende Mädchen

© JU/Ostkreuz
Ein schauriges Jüngstes Gericht macht Elfriede Jelinek aus dem NSU-Prozess. Johan Simons reduziert die Polemik auf 40 Seiten und lässt sie von acht Schauspielern verlesen, als wären es die Prozessprotokolle selbst. Den Toten gedenkend sitzen da Engel, Propheten, Jungfrauen, Jesusfiguren und erörtern das Nichtwissen, das Wissen-Wollen und das Verstehen. Die Produktion der Münchner Kammerspielen war bei den Autoren Theatertagen am Deutschen Theater Berlin zu Gast und wird noch ein letztes mal in München zu sehen sein. Derniere Münchner Kammerspiele, München Sa 11.07.2015

Hausbesuch Europa

© Rimini Protokoll (Haug/Kaegi/Wetzel)
Wer ist Europa, fragen und hinterfragen Rimini Protokoll in ihrer neuesten Produktion »Hausbesuch« Europa«. Zur verabredeten Zeit finden sich 15 Unbekannte in einer Privatwohnung ein und versammeln sich um den großen Wohnzimmertisch. Darauf eine mit europäischen Länderumrissen bemalte Papiertischdecke. Jeder malt ein Dreieck aus Geburtsort, Sehnsuchtsort und Auslandsaufenthaltsort. Es gibt an diesem Abend keine Zuschauer – nur Mitwirkende. Rimini Protokoll hat ein vergnügliches Gesellschaftsspiel zusammen gebastelt: Ein kleine blinkende Maschine wird von einem Spieler zum nächsten bewegst. Auf Knopfdruck spuckt sie Fragen aus: Wer kann von seiner Arbeit leben? Wer hat Angst vor der Zukunft? Wie sehr vertraust du den Anwesenden? Am Ende des Abends ergeben die erlebten Puzzelteile kein Bild von Europa, eher eine vage Ahnung: Wie viel oder wenig kennt man seine Nachbarn? Wie viel engagieren sich Menschen? Wie viel Europa sind wir? In Berlin wird die immer gleiche Spielanordnung in 80 verschiedenen Wohnungen gegeben. Hausbesuch Europa bietet eine spannende Begegnung mit dem Gegenteil von Durchschnitt und Repräsentanz. Ganz privat, ganz nah und doch nicht unpolitisch. Hebbel am Ufer, Berlin (Spielorte unterschiedlich) Restkarten unter Tel. +49 (0)30.259004 -27 6. bis 22. Mai 2015, täglich 17 und 21 h Bergen International Festival, Bergen 31. Mai bis 9. Juni 2015 Malta Festival, Malta 15. bis 26. Juni 2015 Theaterformen, Hannover 3. bis 12. Juli 2015 Sort/Hvid, Kopenhagen 15. bis 27. September 2015 Weitere Spielorte Toulouse, Amsterdam, Prag.

The Civil Wars

© Marc Stephan
Auf der Bühne passiert nicht viel: auf einem Podest ein Wohnzimmer, darin vier Menschen, darüber im close-up ihre Gesichter auf einer Filmleinwand. Man schaut wie durch einen Guckkasten in die Leben der vier belgischen und französischen Schauspieler. Die erzählen ihre ganz privaten Geschichten, fragen nach ihrem eigenen Glauben, ihrer politischen Überzeugung. Es ist Milo Raus persönlichstes Stück. Kein dokumentaristischer Zugriff, wie man ihn sonst vom »International Institute of Political Murder« kennt, keine großen Kriege, keine Völkermorde, es geht um die Kriege im kleinen, die Brutalisierung der Gesellschaft – hausgemachte Kriege. Der rote Faden der »home-made war zone« verliert sich im Laufe des Abends, man folgt den Spielern aber gebannt, weil sie einen ganz dicht heran lassen, an das was sie zu erzählen haben. The Civil Wars glückt vor allem, weil einem die Menschen nahe kommen, nicht unbedingt mit dem, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird. Schaubühne Berlin, im Rahmen von F.I.N.D. #15 Sa 18. April 2015 So 19. April 2015 Wiener Festwochen, brut im Künstlerhaus, Wien 13. – 15. Juni 2015 Grec Festival, Barcelona 23. bis 27. Juli 2015 Spielart Festival München 30. Oktober bis 1. November 2015

Common Ground

© Esra Rotthoff
Common Ground ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner, eher die größte gemeinsame Vielfalt, kein Betroffenheitstheater, obwohl alle 8 Spieler betroffen sind. Sie erzählen Versatzstücke aus ihrem Leben – von selbst erlebten Kriegswirren und einer gemeinsamen Bosnienreise –, verschnitten mit historischen Ereignissen des Jugoslawienkrieges. Das von Yael Ronen und den Schaupielern kollektiv erarbeitete Stück ist erfreulicherweise wirklich ein Stück: direkt, intensiv und dringlich. Eben keine wohlfeile Lecture Performance über Krieg, Schuld, Vergebung, Verdrängung, Vergessen. Es geht richtig zur Sache und so geht man ergriffen und bewegt aus dem Theater und fragt sich, wie sie das machen, selbst betroffen zu sein, die eigene Geschichte zu spielen, auf der Bühne gleichzeitig Figur wie Mensch zu sein. Es gelingt ihnen ein ergreifendes Plädoyer für Menschlichkeit und Frieden. Common Ground wurde zum Theatertreffen 2015 und zu den Mühlheimer Theatertagen eingeladen. Gorki Theater Berlin Do 7. Mai 2015 Fr 8. Mai 2015 Fr 15. Mai 2015 Fr 12. Juni 2015 Sa 27. Juni 2015 So 28. Juni 2015, jeweils 19:30 h Mülheimer Theatertage So 31. Mai 2015 Schillertage, Mannheim Mo 15. Juni 2015

Den Krieg erklären

© Andreas Etter
Der Erste Weltkrieg war der letzte Krieg, der erklärt wurde. Danach begannen Kriege oder man trat in Kriege ein. Es gibt Krieg, dann muss man nichts erklären. andcompany&Co erklären in ihrem Lecture-Konzert »Sounds like war« eine ganze Menge über Krieg – dada lässt grüßen. Und seit Kriege über Grenzen hinweg geführt werden, stellt sich nun die Frage, wie Kriege heute beendet werden. Wie machen wir Frieden? Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin? Zuhausebleiben ist eine Option. Wenn alle zuhause bleiben, ist Frieden. Der Abend macht Spaß – und nachdenklich. Termine 2015 Kaaitheater, Brussels 13./14. Januar 2015 Mungo Park, Allerød (DK) 24./25. Januar 2015 Impulse Festival, Mülheim an der Ruhr 18. bis 20. Juni 2015

Exporting War

© david baltzer/bildbuehne.de
Passend zur Adventszeit und zum Fest des Friedens gibt es im Hebbel am Ufer die Waffenlounge. Eröffnet wird sie von Hans-Werner Kroesinger mit seinem Dokumentar-Stück »Exporting War«. Ergeben zwecklos. Hans-Werner Kroesingers Abend funktioniert wie eine Drohne: Selbst wenn man sich dem erschlagenden Daten-Staccato irgendwann ergeben möchte, man hat keine Chance. Man bekommt kein interaktives Erlebnistehater, wie bei Rimini Protokoll, sondern Frontalunterricht. Aus Fakten und Zitaten muss man als Zuschauer selbst einen Sinnzusammenhang herstellen. Aus der letalen Informationsdichte echot es aus dem Hinterkopf, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen möge. Passt das zusammen mit dem drittgrößter Waffenexporteur der Welt: Deutschland ist vorne dabei: von der Handfeuerwaffe bis zum Leopard 2 und den Drohnen in Rammstein. Das Klatschen am Ende würde man sich gerne sparen. Hebbel am Ufer, Berlin, HAU 1 Mo 08.12.2014 Di 09.12.2014 Mi 10.12.2014 Sa 13.12.2014 So 14.12.2014 Di 16.12.2014 Mi 17.12.2014 Fr 19.12.2014 Sa 20.12.2014

Crowd Out

© Huy Don Ho Pham
1000 Stimmen ertönen im »flash mob« der Berliner Philharmoniker. Es wird gerufen, gesungen, gemurmelt, geraunt als bewegte sich die kritische Masse unsrer überindividualisierten Gesellschaft, in der sich das »Ich« immer mehr vereinzelt. Komponiert vom New Yorker David Lang kommt Crowd Out zur Deutschlandpremiere unter der Musikalischen Leitung von Simon Halsey. Auf dem Vorplatz des Kulturforums Berlin – kostenlos und draußen Samstag 14. Juni 2014 um 18 h Sonntag, 15. Juni 2014 um 19 h Dauer jeweils 30 min London, Band Stand, Arnold Circus Sat 21 Jun 15:30 Performance #1 18:00 Performance #2

10 Jahre Education-Programm

© Monika Rittershaus»We must be part of the city — and music belongs to everybody,« sagte Sir Simon Rattle vor zehn Jahren. Heute sind die Berliner Philharmoniker Berlin – und das nicht weil sie so exzellente Konzerte spielen, sondern weil sie mit den Berlinern spielten und spielen. In den vergangenen zehn Jahren waren über 30.000 Berliner im Alter von 3 bis 73 Jahren Teil der Education-Projekte (Schüler, Gefängnisinsassen, Altersheim-Bewohner); die Ergebnisse wurden vor über 200.000 Zuschauern präsentiert (thank you Simon). Das wird am Sonntag, 21. April 2013, in der Philharmonie gefeiert. Einen Tag lang von morgens bis abends. Das Programm ist so reichhaltig, dass man sich am besten mehrere Pausenbrote mitbringt. 10 bis 13 h Mitmachprogramm 15 und 18 h Strawinsky und Britten

Geschlossene Gesellschaft

© Erasmus Schröter, Sammlung Berlinische GalerieIn der international ersten umfassende Schau der künstlerischen Fotografie der DDR von 1949–1989 zeigt die Berlinische Galerie Motivation und Bildsprache von 33 Fotografen. Das Panorama reicht von intimen Einblicken in den Lebensstil im Prenzlauerberg bis hin zu Aufmärschen und FDJ Treffen. Berlinische Galerie, noch bis 28.01.2013

Andersheit

»If you've ever talked to someone with two heads you know that they know something you don't.«
Diane Arbus
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